Die Coronakrise hat gezeigt, dass das Gesundheitswesen in der Schweiz funktioniert. Trotzdem gab es an verschiedenen Orten Schwierigkeiten und Engpässe. In der Zwischenzeit konnten zahlreiche Massnahmen zurückgefahren werden und das Leben verläuft – mit wenigen Ausnahmen – wieder weitgehend normal. Zeit für eine (Zwischen-)Bilanz.
Mit Rudolf Leuthold, Leiter Gesundheitsamt Graubünden, sprach Thomas Hobi
Herr Leuthold, wie beurteilen Sie rückblickend die Coronazeit in Graubünden?
Die letzten Monate waren enorm fordernd. Unsere Arbeit kann man in mehrere Phasen unterteilen. In der ersten Phase, als wir realisierten, dass da etwas Grosses auf uns zukommt, mussten wir feststellen, dass die verschiedenen Institutionen völlig unterschiedlich aufgestellt waren. Die einen waren sehr gut vorbereitet, andere wurden komplett überrumpelt oder fühlten sich nicht betroffen. Wir haben dann umgehend angefangen, Massnahmen zu ergreifen, bevor dies der Bundesrat getan hat. Während des Lockdowns führte dann der Bund und wir mussten zusammen mit dem Kantonalen Führungsstab und dem Amt für Militär und Zivilschutz in erster Linie sicherstellen, dass genügend Ressourcen und Material zur Verfügung standen. Jetzt, da wir Schritt für Schritt wieder in die normale Lage zurückkehren, ist das Gesundheitsamt wieder in der Verantwortung.
In einer solchen Situation kann man nie allen gerecht werden. Wie gehen Sie damit um?
Das ist genau die grosse Schwierigkeit. Wenn wir beispielsweise Besuchsregeln erlassen, reicht das Spektrum von «Spinnt ihr, so früh zu öffnen» bis «Das hättet ihr schon lange machen müssen». Wir versuchen, im Kanton ein einheitliches Bild zu erschaffen. Die Bevölkerung würde es nicht verstehen, wenn man im Pflegeheim A die Angehörigen besuchen darf, im Pflegeheim B aber nicht. Aber wir sind uns durchaus bewusst, dass man es nie allen recht machen kann. Mit Reklamationen muss man umgehen können.
Welche Lehren ziehen Sie aus der Coronakrise?
Die wichtigste Lehre für mich ist, dass wir klar strengere Regeln aufstellen müssen, wie man vorbereitet sein muss, und die Umsetzung werden wir dann auch kontrollieren. Eigentlich hätte jede Bündnerin und jeder Bündner im Notvorrat eine Packung Schutzmasken haben müssen. Das haben wir bei der letzten Pandemie, die zum Glück nicht so gravierend ausgefallen ist, empfohlen. Fehlen diese Vorräte, kommt es im Ernstfall zu den erlebten Hamsterkäufen – und ich spreche jetzt nicht vom WC-Papier. Diese Panikreaktion der Leute kann man nicht beeinflussen. Sicher ist aber auch, dass die nächste Pandemie irgendwann kommen wird. Übertragbare Krankheiten werden in Zukunft zunehmen, deshalb gehört Schutzmaterial einfach zur persönlichen Ausrüstung dazu.
Im aktuellen Pandemie-Fall waren ältere Menschen speziell gefährdet. Wie beurteilen Sie die Arbeit des Pflegepersonals in dieser anspruchsvollen Zeit?
Ich möchte dem Pflegepersonal ein Kränzchen winden. Die Leute haben einen sehr guten Job gemacht und sich stark eingesetzt. Wir hatten in Graubünden zwar auch einzelne Covid-19-Fälle in Pflegeheimen, aber nicht in einem solchen Ausmass, wie dies beispielsweise in Italien der Fall war. Das zeigt, dass das Pflegepersonal gut ausgebildet ist und mit hohen Belastungen professionell umgehen kann. Dank der guten Arbeit in der Langzeitpflege sind die Intensivstationen in den Spitälern vor Überbelegungen verschont geblieben.
Gute Arbeit schreit schnell einmal nach Belohnung. Wie wird denn nun dieser Sondereinsatz entschädigt? Reicht da eine Minute Beifall?
Letztendlich ist das Sache der Anstellungsbedingungen der einzelnen Institutionen. Darauf hat das Gesundheitsamt keinen Einfluss und wir wollen hier auch keine Vorgaben machen. In den letzten Jahren hat sich bezüglich Anstellungsbedingungen viel getan und es wurde ein guter Standard erreicht. Ich denke da an die zusätzliche Ferienwoche, an die Arbeitsmarktzulage, die in den Lohn eingebaut worden ist, oder auch an die analytische Funktionsbewertung des Bündner Spital- und Heimverbandes BSH und des Spitex Verbandes Graubünden. Ich bin der Meinung, dass man nicht sagen kann, der Pflegeberuf sei im Quervergleich mit anderen Berufen schlecht bezahlt. Zudem ist er eine sichere und sinnvolle Arbeitsstelle. Gerade für Junge ist die Sinnhaftigkeit eines Berufes sehr wichtig und da hat der Pflegeberuf natürlich etwas zu bieten, was nur wenige andere Berufe bieten können.
Das tönt schon fast wie ein Werbespot für die Langzeitpflege. Wie kann man dieses Denken und diese Haltung in der Bevölkerung verankern?
Wichtig ist natürlich, dass die einzelnen Pflegefachpersonen darauf hinweisen, dass sie einen spannenden Job haben. Und auch die Institutionen sollten zeigen, dass sie interessante Arbeitgeber sind. Wenn man das den jungen Menschen vermitteln kann, dann wird es auch immer Leute geben, die diesen Beruf ausüben wollen. Was sicher auch zu beachten ist: Die Tendenz zum 100%-Job ist heute, gerade bei emotional anspruchsvollen Tätigkeiten, nicht mehr gleich gegeben wie früher. Wer Teilzeitarbeit ermöglicht, ist ein attraktiver Arbeitgeber. Hier braucht es die nötige Flexibilität.
Welche grossen Herausforderungen werden in Zukunft auf die Pflege zukommen?
Ich sage Ihnen nicht, was die Pflege erwartet, sondern was die Jugend erwartet: Auf drei Arbeitnehmende, die in Pension gehen, rücken über alle Berufe gesehen höchstens zwei Junge nach. Das ist die demografische Entwicklung. Die grösste Herausforderung für die Gesellschaft wird sein, in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren diejenigen offenen Stellen besetzen zu können, die wir wirklich brauchen. Dies erfordert aber eine vertiefte gesellschaftliche Diskussion. Roboter sehe ich in der Pflege eher nicht als Lösung.